1.
Maria
Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenschaute, sah alt aus, obwohl sie die Kleidung eines jungen Mädchens trug. Maria hatte eine gute Figur für ihr Alter und die Tatsache, dass sie vier Kinder geboren hatte. Immer wieder hörte sie erstaunte Komplimente, wenn sie ihre Kinder erwähnte. Sie war schlank, machte jeden Morgen Pilates, wenn es ruhig im Haus geworden war. Nachmittags ging sie joggen, bevor sie das Abendessen kochte, von dem sie meist nur die Speisen ohne Kohlehydrate aß, um nicht zuzunehmen. Natürlich war das ein ganz schlechter Scherz, das mit den Kohlehydraten, die sie beim Abendessen sparte. Die nahm sie später in Form von Wein, Sekt oder Gin Tonic in doppelter Menge zu sich.
„Stell dir vor, du würdest zusätzlich noch Kartoffeln oder Gott bewahre Pommes essen“, pflegte ihre Freundin Birte zu sagen. „Was meinst du, wie du dann aussehen würdest? Es ist absolut gerechtfertigt, dass du beim Abendessen vorsichtig bist. Man muss Prioritäten setzen.“
Maria begann langsam, Make-up aufzulegen. Nicht zu viel, sie wollte nicht aufdringlich, überschminkt wirken. Nicht zu wenig, es gab in ihrem Alter genug zu kaschieren im Gesicht. Wie immer beobachtete Luna sie. Der Hund schien zu wissen, dass sie am Abend ausgehen würde, und sah traurig aus. Während sie langsam den dicken Pinsel, mit dem sie den Bronzer auftrug, über ihre Haut gleiten ließ, überlegte sie, wann Sebastian ihr Gesicht das letzte Mal angesehen hatte. Wann er das letzte Mal traurig gewesen war, dass sie einen Abend nicht gemeinsam verbringen würden. Natürlich sah ihr Ehemann sie jeden Tag an, aber wann hatte er sie das letzte Mal angesehen? Hatte er die neue Kette bemerkt, die sie sich gegönnt hatte und seit ein paar Tagen trug? Wenn er sie bemerkt hatte, dann nur auf dem monatlichen Abrechnungsauszug ihrer Kreditkarte.
Sie waren mal verliebt gewesen, hatten nicht genug voneinander bekommen können. Sie hatten geheiratet und waren sich sicher gewesen, dass sie nicht wie die typischen Eltern enden würden, die im besten Fall wie Freunde nebeneinanderher lebten. Natürlich waren sie mit jedem Kind mehr genau diese Eltern geworden und natürlich wusste sie, dass es fast allen so ging. Ihre Freundinnen waren entweder geschieden oder lebten in ebenso lieb- wie sexlosen Beziehungen wie sie selbst.
Sie liebte ihren Mann, das war nicht das Problem. Sie war sich sicher, dass er ebenfalls noch Gefühle für sie hatte. Sie hatten nur kein Interesse mehr aneinander. Sie waren füreinander wie ein lieb gewonnener Gegenstand geworden. Ein Möbelstück, bei dem man nicht überlegen musste, ob man es mitnahm, wenn man in eine kleinere Wohnung zog, es gehörte zum Leben dazu. Wie Ein- und Ausatmen.
Maria ging zum Kühlschrank und nahm die beiden Mini-Flaschen Wodka heraus, die sie vor ein paar Tagen im Supermarkt besorgt hatte. Bis vor ein paar Stunden hatten die Fläschchen gut versteckt in ihrem Auto unter dem Sitz gelegen, dem einzigen Platz, der ihr eingefallen war, wo ihre Kinder nicht bewusst oder aus Zufall rumstöbern würden. Nachdem alle das Haus verlassen hatten, hatte sie die Fläschchen geholt und in den Kühlschrank gelegt. Sie hatte sich selbst überzeugt, den hochprozentigen Alkohol besser gut gekühlt runterbringen zu können. Sie trank fast täglich, aber nie vor dem Abendessen und jetzt war es gerade mal halb drei am Nachmittag. Sie öffnete die erste Flasche und trank sie in einem Zug leer. Sie schüttelte sich, ihre Kehle schmerzte von der Schärfe des Wodkas. Sie hätte den Alkohol, mit dem sich locker machen wollte, problemlos mit Orangensaft mischen können, doch sie hatte es nicht getan. Wollte sie sich ein bisschen bestrafen für das, was sie gleich tun würde? Eine ziemlich lächerliche Strafe für das, was sie vorhatte.
Die zweite Flasche würde sie trinken, kurz bevor sie an die Tür des Hotelzimmers klopfte. Sie hatte in ihrem Leben nur mit drei Männern geschlafen, in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren ausschließlich mit ihrem Ehemann.
Maria lachte verbittert auf. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren war ein guter Witz. Sebastian und sie waren nach der Geburt ihres vierten Kindes noch genau fünfmal zusammen im Bett gewesen. Sophie war mittlerweile fast fünfzehn. Bei dem Gedanken daran, dass sie in etwas mehr als einer Stunde das erste Mal seit weit über einem Jahrzehnt wieder mit einem Mann intim sein würde, hätte sie das zweite Fläschchen am liebsten sofort geöffnet. Nein, sie würde es erst trinken, kurz bevor sie dort war, sonst bekam sie am Ende Angst vor ihrer eigenen Courage.
*
Obwohl die Dunkelheit nur von dem armseligen Licht einer einzelnen Straßenlaterne erleuchtet wurde, erkannte sie ihn schon von Weitem. Wer sollte auch sonst dort stehen mitten in der Nacht? Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, sie war so unendlich müde. Die Tatsache, dass ihr Geliebter sie gleich umarmen und küssen würde, löste keinen Adrenalinstoß mehr in ihrem Körper aus. Sie musste sich keinen Mut mehr antrinken wie damals vor der Hoteltür, hinter der sie ihre erste Nacht miteinander verbracht hatten. Eine Nacht, die in Wirklichkeit ein Tag gewesen war.
Olaf winkte ihr zu, dass auch er sie durch die Dunkelheit erkannt hatte. Ob er noch Aufregung verspürte? Erregte die Tatsache ihn weiterhin, dass er seine Frau genauso betrog, genau wie sie ihren Mann? Und fühlte er sich gleichzeitig so unendlich schuldig wie sie selbst, dass er einen geliebten, vertrauten Menschen so schamlos verriet? Einen geliebten Menschen, der sich mit aller Kraft wehrte, zurückschlug, kämpfte. Nicht um sie, sondern gegen sie. Mit ihr. Maria seufzte. Es war Anfang Dezember, bald war Weihnachten, das Fest der Liebe.
Zwei Jahre dauerte ihre Affäre bereits, es war nie Liebe gewesen, eher ein Ausbruch aus der Einsamkeit, aus der Routine. Zumindest für sie. Seit einem Jahr fragte sie sich allerdings nicht mehr nur, warum sie Sebastian das antat. Sie fragte sich, warum sie sich das antat. Die heimlichen Treffen, die Lügen, all das laugte sie aus, ermüdete sie zunehmend. Und doch konnte sie nicht davon lassen, weil sie sich dann noch leerer gefühlt hätte. Immerhin wollte ihr Geliebter mit ihr ins Bett, ihren Körper spüren, sie berühren. Immerhin.
Sie winkte zurück. Sah, dass Olaf immer schneller auf sie zukam. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte sie ein Geräusch, eine Art Pfeifen oder Zischen. Es kam von hinten. Dann gab es einen Knall. In ihr.
Der Körper von Maria Walter fiel nach vornüber auf die Erde, direkt vor die Füße ihres Geliebten.
2.
Amaryllis Winter spürte die klare Luft des eiskalten Wintermorgens fast schmerzhaft auf ihrer Haut. Sie trug einen dicken schwarzen Steppmantel, einen grauen Schal mit passender Mütze und fror trotzdem. Auch ihre Füße in den gefütterten Boots waren durchgefroren. Es war erst kurz vor sechs Uhr und stockdunkel. Ein Radfahrer fuhr an ihr vorbei durch die kleine Straße, die auf beiden Seiten von Schrebergärten gesäumt wurde. Der Mann stieg von seinem Rad ab, als er die Polizeiabsperrung sah. Er sprach kurz mit einem der Polizisten, drehte dann um und fuhr mit grimmigem Gesicht erneut an der Hauptkommissarin der Berliner Mordkommission vorbei.
„Bei der Kälte würden mich keine zehn Pferde aufs Fahrrad kriegen“, hörte sie die Stimme ihres Partners Falk von Heeren hinter sich.
„Solange du hundert Pferde in Form eines Autos vor der Tür stehen hast, werden dich auch im Sommer bei 25 Grad keine zehn Pferde auf ein Fahrrad bringen“, begrüßte Amaryllis ihren Kollegen. „Du hättest dich wenigstens kämmen können.“
Falk von Heeren strich sich mit der Hand durch seine strubbeligen braunen Locken, die von immer mehr grauen Strähnen durchzogen wurden, und grinste. „Ich habe mir lieber einen Kaffee gekocht. Man muss Prioritäten setzen. Hast du schon mit einem der Kollegen gesprochen, was genau vorgefallen ist?“
„Nein. Ich bin gerade erst angekommen. Ich frage mich, was die Frau hier mitten in der Nacht gemacht hat. Der Notruf bei der Polizei ist um drei Uhr eingegangen. Um die Zeit fahren auch Schichtdienstler nicht zur Arbeit oder kommen zurück, schon gar nicht am Wochenende. Einen Spaziergang wird sie um die Zeit bei der Kälte kaum gemacht haben.“
Die beiden Kommissare gingen zu dem Polizisten, der neben der Absperrung stand, stellten sich vor und zeigten ihre Dienstausweise.
„Sie waren als Erster vor Ort?“, fragte Falk den Mann, der nickte.
„Polizeimeister Justus Corow. Der Rettungswagen war natürlich vor uns hier. Der Anrufer hat die 112 gewählt, aber lediglich angegeben, eine tote Frau läge auf der Willowstraße zwischen den Schrebergärten, dann hat er aufgelegt. Nachdem der Notarzt vor Ort tatsächlich eine Leiche vorgefunden hat, wurden wir verständigt. Den Rest kennen Sie.“
„Der Anrufer hat seinen Namen nicht angegeben? Und war nicht mehr vor Ort, als der Notarzt eingetroffen ist?“, fragte Amaryllis nach.
„Nein. Wir haben die Nachverfolgung des Anrufs bereits veranlasst. Sollte nicht schwierig werden, die Telefonnummer herauszubekommen und auf welchen Namen sie registriert ist“, erklärte Corow.
„Stimmt“, bestätigte Falk. „Es sei denn, Anrufer und Täter sind identisch und der Mann hat ein Prepaidhandy unter falschem Namen angemeldet. Aber gehen wir mal nicht gleich vom Schlimmsten aus.“
„Die Frau könnte Suizid begangen haben. Wissen wir schon, wer sie ist?“, wollte Amaryllis wissen.
„Suizid hat sie definitiv nicht begangen. Ihr wurde in den Rücken geschossen und wir haben keine Waffe in der unmittelbaren Umgebung gefunden“, widersprach Justus Corow. „Sie hatte keine Papiere bei sich, nur ein Mobiltelefon und einen Schlüssel in ihrer Jackentasche. Wir haben beides sichergestellt.“
„Wenn Selbstmord ausgeschlossen werden kann, muss der Anrufer irgendetwas mit ihrem Tod zu tun haben. Sonst hätte er seinen Namen genannt.“ Falk deutete auf die Leiche, die einige Meter entfernt von ihnen lag. „Der Mann wird wohl kaum nachts um drei zufällig hier vorbeigekommen sein, eine Leiche gesehen, den Notarzt verständigt und dann nach Hause ins Bett gegangen sein, als passiere ihm das alle naselang.“
Die Kommissarin blickte sich um. Die kleine Straße war in ein merkwürdiges blaues Licht getaucht, das von den diversen Einsatzfahrzeugen der Polizei erzeugt wurde. Andere Fahrzeuge waren nicht zu sehen, kein einziges Auto war am Straßenrand geparkt.
„Ziemlich einsame Gegend. Auf beiden Seiten der Straße sind Kleingartenanlagen, soweit ich weiß, darf man da zwar mal in seiner Laube übernachten, aber man darf dort nicht wohnen. Unwahrscheinlich also, dass sich in dieser Nacht im tiefsten Winter jemand bei Minusgraden dort aufhält“, kommentierte sie. „Ich glaube auch, dass der Anrufer etwas mit der Tat zu tun hat. Nur warum erschießt er die Frau erst und ruft im Anschluss den Notarzt?“
„Er muss nicht zwingend der Täter sein“, gab Falk zu bedenken.
„Wird in Schrebergärten im Herbst nicht das Wasser ausgestellt?“, merkte Justus Corow an. „Bei meinen Großeltern im Kleingarten war das immer so. Wir machen nachher eine Runde durch die Anlage, aber ich denke, wir werden dort niemanden antreffen, der etwas gesehen haben könnte.“
„Ein guter Ort für einen Mord, darauf können wir uns einigen. Um Zeugen muss man sich wenig Gedanken machen.“ Falk sah sich ebenfalls um. „Fragt sich nur, warum die Frau zugestimmt hat, ihren Mörder hier mitten in der Nacht zu treffen oder warum sie allein um die Zeit in der Kälte spazieren gegangen ist.“
Das Handy von Justus Corow klingelte.
„Der Mann, der den Notruf bei der Polizei abgesetzt hat, hat sich gemeldet. Er ist zum Abschnitt 43 gefahren und wartet dort auf seine Befragung.“
„Dann wissen wir, wo wir als Nächstes hinfahren“, bestimmte Falk und deutete auf sein Auto. „Ich fahre, du kannst deinen Wagen hier stehen lassen, wir kommen nachher nochmals zurück, um uns den Tatort im Hellen anzusehen.“
3.
Olaf Brand war ein kleiner gedrungener Mann mit Halbglatze und einer Brille mit violettem Rahmen, die nicht zu seinem Gesicht passte. Er trug Jeans, einen Wollpullover mit Hemd darunter und schwere Winterstiefel. Brand spielte nervös mit einer Kreditkarte, die er aus seinem Portemonnaie genommen haben musste, das vor ihm auf dem Tisch lag. Sein Schlüsselbund und zwei Pakete Tempotücher lagen daneben, fast als habe er vorsorglich seine Taschen geleert, da er erwartete, dass die Polizei in sowieso dazu auffordern würde.
„Herr Brand, können Sie uns sagen, warum Sie nicht vor Ort geblieben sind, nachdem Sie die Tote gefunden haben?“, begann Falk die Befragung.
„Ich bin in Panik geraten. Es gab einen Knall und Maria ist einfach umgefallen, direkt vor meine Füße. Sie sind das vielleicht gewöhnt, aber ich bin vollkommen durchgedreht. Wollte einfach nur weg. Ehrlich gesagt bin ich weggelaufen wie ein kleines Kind, das Angst vor einem Monster hat. Ich habe den Notruf erst gewählt, als ich schon fast zu Hause war.“
„Sie kannten die Frau also?“, hakte der Kommissar nach, die Bemerkung des Mannes über seinen seelischen Zustand ignorierend.
„Ja, sie heißt Maria Walter, wir haben seit zwei Jahren ein Verhältnis.“ Olaf Brand schaute bei seinen Worten auf den Boden, holte schließlich tief Luft und sah die beiden Beamten an. „Als ich zu Hause war und wieder zu mir gekommen bin, habe ich mir gedacht, Sie finden das alles sowieso heraus. Was nützt es also, wegzurennen.“
Amaryllis betrachtete den Mann irritiert. War er wirklich nur zur Polizei gegangen, weil er wusste, dass seine Beziehung durch den Tod der Geliebten sowieso ans Licht kommen würde? Ließ ihn der Mord an der Frau vollkommen kalt? Er musste sie gut gekannt haben, wenn sie über einen so langen Zeitraum zusammen gewesen waren, sei es nun offen oder versteckt.
„Haben Sie die Polizei gerufen, als Sie bereits zu Hause waren, oder vorher?“, fragte sie nach, den Zeugen darauf hinweisend, dass er sich widersprochen hatte.
„Als ich zu Hause war. Entschuldigen Sie, ich bin immer noch vollkommen aufgelöst.“
„Was ist heute Nacht passiert? Schildern Sie uns bitte jede Einzelheit so genau wie möglich“, bat Falk den Mann, Amaryllis konnte an seiner Stimme hören, dass er ebenso erstaunt über dessen Verhalten war wie sie selbst.
„Maria und ich wollten uns treffen. Besser gesagt, ich wollte sie treffen. Maria hatte den Abend bei ihrer Freundin Birte verbracht, ist erst gegen ein Uhr dort aufgebrochen. Sie läuft immer zu Fuß nach Hause, die Freundin wohnt ganz in der Nähe. Die beiden trinken für gewöhnlich den ganzen Abend Sekt, während sie über Gott und die Welt reden.“
„Sie haben sich gegen ein Uhr nachts im Freien auf der Brücke mit Ihrer Freundin verabredet, und das mitten im Winter? Ist das nicht etwas ungewöhnlich?“
Olaf Brand seufzte. „Wir sind beide verheiratet. Für mich ist die Sache einfacher, ich lebe in München, bin beruflich viel in Berlin, wohne hier fast immer in der Wohnung meines Onkels. Der hat ein Ferienhaus an der Nordsee, wo er mittlerweile die meiste Zeit verbringt, er ist Rentner. Meine Frau stellt schon lange keine Fragen mehr oder kontrolliert mich. Bei Maria ist das anders. Sie hat Angst, dass ihre Familie etwas von ihrer Affäre erfährt. Oder besser gesagt, erfährt, dass wir immer noch zusammen sind. Ihr Mann hat schon mal etwas mitbekommen. Sie hat vier Kinder, der Ehemann sorgt allein für den Lebensunterhalt. Maria hat nie in ihrem Leben arbeiten müssen, hat Panik, was sie macht, wenn es zur Scheidung kommen sollte. Also ist sie sehr vorsichtig, trifft mich nur, wenn sie ein perfektes Alibi hat.“
„Der Rückweg von ihrer Freundin ist so ein Alibi?“ Amaryllis überlegte, während sie sprach, ob es nicht nur tiefe Liebe sein konnte, die zwei Menschen dazu trieb, sich mitten in der Nacht bei minus fünf Grad an einer einsamen Straße zu treffen, um wenigstens ein paar Minuten miteinander verbringen zu können.
Doch die nächste Antwort des Zeugen belehrte sie eines Besseren. „Wie gesagt, ich hatte Maria dazu gedrängt, dass wir uns treffen, ich fahre morgen nach Hause, ich wollte sie unbedingt sehen, sie lieber zu ihrer Freundin gehen. Sie hat schließlich eingewilligt, sich wenigstens kurz von mir zu verabschieden.“
„Sie haben angegeben, dass es einen Knall gab und Maria umgefallen sei. Können wir daraus schließen, dass sie sich bereits getroffen hatten, als der Schuss fiel?“
„Nein, ich war etwas früher dort, sie hatte mir zwar Bescheid gesagt, so ungefähr eine halbe Stunde bevor sie bei ihrer Freundin aufbrechen wollte, aber Sie kennen das. Dann redet man doch noch länger, die Verabschiedung dauert. Ich hatte sicher schon fünfzehn Minuten gewartet, als ich Maria endlich von Weitem kommen sah. Mir war eiskalt, ich war komplett durchgefroren und hatte gerade überlegt, ob ich einfach nach Hause fahren sollte.
Als eine Person aus der Richtung kam, wo die Freundin wohnt, wusste ich, dass nur sie es sein konnte, wir haben uns schon öfter in der Straße getroffen, dort geht nachts kein Mensch entlang. Ich habe ihr gewunken, bin auf sie zugelaufen. Sie hat mir ebenfalls zugewunken und war nur ein paar Meter entfernt, als sie plötzlich vornüberfiel und reglos liegen blieb.“
Olaf Brand liefen Schweißperlen die Stirn herunter und er holte ein Taschentuch aus einer der beiden Packungen auf dem Tisch, um sie abzuwischen.
„Was haben Sie gemacht? Wie haben Sie reagiert?“ Falk war die Ungeduld anzumerken, dass der Zeuge nicht von sich aus weitersprach.
„Ich bin natürlich zu ihr hingelaufen. Ich dachte, sie sei vielleicht ausgerutscht.“ Brand schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß nicht warum, aber mir schoss durch den Kopf, dass sie einen Schlaganfall gehabt haben könnte. Ich habe mich neben sie gekniet, ‚Maria, Maria‘ gerufen, ihre Hand genommen und versucht, einen Puls zu finden.“
„Ihnen war nicht klar, dass sie erschossen worden war?“
„Nein, zuerst nicht. Ich hatte zwar das Schussgeräusch gehört, habe aber nicht realisiert, dass das echt war. Ziemlich dumm von mir. Man hat nichts gesehen, Maria trug einen dunklen Mantel, vielleicht wenn sie etwas Helleres angehabt hätte, hätte ich gleich bemerkt, was wirklich geschehen war. So habe ich eine ganze Zeit lang versucht, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. Ich war irgendwann so verzweifelt, dass ich sie geschüttelt habe, dabei muss ich an ihren Rücken gekommen sein, meine Hand war plötzlich voller Blut. Da erst habe ich verstanden, was passiert war.“
„Sie sagten eben, dass Sie ungefähr fünfzehn Minuten vor Frau Walter an Ihrem Treffpunkt angekommen sind. Haben Sie in der Zeit, in der Sie gewartet haben, etwas bemerkt? Ein Geräusch, ein Tier im Gebüsch, ein Mensch, der vielleicht in der Entfernung vorbeigegangen ist?“
„Nein. Ganz sicher nicht. Es war totenstill, da ist nicht mal ein Blatt vom Wind über die Straße gefegt worden und hat dabei geraschelt.“
„Warum haben Sie nicht sofort einen Notarzt gerufen?“ Amaryllis sah dem Mann bei der Wiederholung ihrer Frage fest in die Augen.
Olaf Brand senkte seinen Blick. „Ich bin in Panik geraten, wie ich schon sagte. Mir sind Hunderte Gedanken gleichzeitig durch den Kopf geschossen. Warum sollte jemand Maria erschießen wollen? War der Täter noch da und würde als Nächstes auf mich schießen? Was, wenn die Polizei denken würde, ich hätte sie umgebracht? Was würde Marias Ehemann sagen? Ich muss Montagmorgen einen Vortrag in Nürnberg halten, den kann ich unmöglich absagen! Sie glauben nicht, was für ein Schwachsinn einem in einem solchen Moment durch den Kopf geht.“
Olaf Brand wischte sich erneut mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht hatte eine ungesunde rote Färbung und Amaryllis hatte Sorge, dass er vor Stress kollabieren könne.
„Sagen Sie uns einfach ganz ruhig, was geschehen ist“, versuchte sie, den Mann zu beruhigen. „Wir nehmen lediglich Ihre Zeugenaussage auf. Viele Menschen reagieren in einer solchen Extremsituation mit Panik.“
Das stimmte zwar nicht, denn die meisten Menschen hätten sofort den Notarzt verständigt, um zu sehen, ob man die Frau vielleicht hätte retten können. Außerdem war der Mann definitiv mehr als ein Zeuge, selbst wenn er den Tatort nicht verlassen hätte, hatte er als geheimer Liebhaber der Frau auf jeden Fall ein Tatmotiv.
„Ich weiß, dass es falsch war, wegzurennen. Aber ich bin durchgedreht, konnte nicht mehr klar denken“, entschuldigte sich Brand erneut, obwohl ihn die Worte der Kommissarin offenbar etwas beruhigt hatten. „Ich bin in das Haus meines Onkels gefahren, habe mich ins Wohnzimmer gesetzt und erst mal angefangen zu weinen. Nach ein paar Minuten muss der Schock nachgelassen haben und ich habe den Notarzt angerufen. Dann habe ich mich ins Bett gelegt und bin für eine Stunde oder so eingeschlafen. Ich war vollkommen fertig. Als ich aufgewacht bin, war ich endlich wieder klar genug, zu verstehen, was da passiert ist, und ich bin zur Polizei gefahren.“
Amaryllis überlegte, wie viel Glauben sie den Worten des Mannes schenken konnte, und schaute zu ihrem Partner. Falks Gesichtsausdruck war eindeutig, auch er hielt Brand für einen Lügner.
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