Allgemein Die Ermittler

Indien…

In Amaryllis Erinnerung war es ein unglaublich stickiger Tag gewesen, die Luft schien in den Gassen von Jodphur zu stehen

In Amaryllis Erinnerung war es ein unglaublich stickiger Tag gewesen, die Luft schien förmlich in den kleinen Gassen von Jodphur zu stehen. Der Geruch von gemahlenen Nelken und Kurkuma war ihr in die Nase gezogen, als die junge Frau, die einen traditionellen Sari in einem hellen Pinkton trug, sich über sie gebeugt hatte.

„Du bist also das Mädchen mit dem unaussprechlichen Namen“, hatte sie auf Hindi gemurmelt und Jaya Winter einen spöttischen Blick zugeworfen. „Deine Mutter hatte schon immer ihren eigenen Kopf.“

„Mein zweiter Name ist Sanskritti“, hatte Amaryllis stolz verkündet, was ihr ein Lächeln der Frau eingebracht hatte. „Schätzchen, das macht es nicht besser, dass deine Mutter eine indische Sprache in einen weiteren Vornamen umgewandelt hat.“

„Eine schöne Blume und eine alte Sprache meiner Heimat, du kannst mir sagen, was du willst, Reti, das Kind hat einen wunderbaren Namen“, hatte Jayashree gelacht und Amaryllis auf den Arm genommen. „Lass uns reingehen, Schwesterherz, ich habe das Gefühl, ich ersticke gleich.“

Ihre Mutter hatte sie über die Schwelle der großen, himmelblau gestrichenen Tür getragen und dann auf den Steinboden gesetzt. „Gleich wirst du die schönsten Stoffe sehen, die du dir vorstellen kannst“, hatte ihre Mutter erklärt und Amaryllis war ihr durch einen langen Gang in einen großen Raum gefolgt. „Deine Tante Reti redet zwar viel dummes Zeug, aber wenn es um Stoffe geht, gibt es niemanden, der ihr etwas vormacht.“

Manchmal träumte Amaryllis auch heute noch nachts von der unglaublichen Farbpracht, die sie in dem saalartigen Zimmer empfangen hatte. Überall waren Stoffballen gestapelt, große Stoffmuster hingen von riesigen Bügeln von der Decke herunter. Nichts in der kleinen, dunklen Gasse hatte Amaryllis auf die Farbgewalt vorbereitet, die sie in dem Stofflager ihrer Tante empfangen hatte.

„Das Leben in Singapur mit deinem Mann bekommt dir“, hatte Reti zu ihrer Schwester gesagt und ihr ein smaragdgrünes Stück Stoff angehalten. „Du strahlst regelrecht. Du bist doch nicht wieder schwanger?“ Amaryllis hatte dabei fasziniert auf die Hände ihrer Tante gestarrt, die komplett mit Henna bemalt waren.

„Wenn es so wäre, würdest du es als Erste erfahren“, hatte Jaya gelacht. „Nein, ich konzentriere mich auf meine Karriere. Ich habe nicht vor, nur die Ehefrau eines vermögenden Mannes zu sein, die Kaffee trinkt, Tennis spielt und von der Arbeit ihres Mannes lebt. Die Modelinie mit indisch inspirierter Kleidung, die hat erstmal Priorität.“

„Das war mal unser Traum, ich finde die Stoffe, du nähst die Kleider“, hatte Reti geantwortet. „Fast schade, dass uns die Liebe dazwischengekommen ist.“

„Der Traum hat sich nicht verändert. Nur weil ich einen Diplomaten geheiratet habe und mit ihm durch die Welt ziehe, heißt nicht, dass ich keine Kleider nähe und du mir die Stoffe lieferst. Es dauert alles nur ein kleines bisschen länger.“

Den Rest des Tages hatten die beiden Frauen damit verbracht, die Stoffe zu betrachten, Farben und Qualitäten zu vergleichen und Amaryllis darüber fast vergessen. Nur gelegentlich hatte eine der beiden nach dem Kind geschaut, um festzustellen, dass die Kleine ihnen entweder mit großen Augen zuschaute, zufrieden mit ein paar Stoffmustern spielte oder an einer der klebrigen indischen Süßigkeiten kaute, die Reti ihr hingestellt hatte.

„Konzentriert, wissbegierig, ehrgeizig und ein kleines bisschen unnahbar. Das Mädchen kann es weit bringen“, hatte Reti am Ende des Tages geurteilt und Jaya hatte gelächelt. „Sie hat ihren eigenen Kopf, genau wie ich, hoffentlich wird sie das nie einschränken.“

„Als hätte es dich je eingeschränkt“, hatte Reti gelacht und ein dickes Notizbuch zugeklappt, in dem sie während des Tages immer wieder geschrieben hatte. „Heute Abend gehen wir bei Ravi essen, er macht immer noch das beste Aloo Ghobi und das beste Raita der Stadt. Und unsere kleine Prinzessin hier wird mit einem extra großen Mango Lassi belohnt. Oder ist das nicht mehr dein Lieblingsgetränk?“

Amaryllis war bei ihrem ersten und einzigen Besuch in der indischen Heimatstadt ihrer Mutter gerade mal fünf Jahre alt gewesen und sie hatte kaum mehr Erinnerungen an die Reise. Nur der Tag, den sie mit Reti, der Schwester ihrer Mutter in deren Stofflager verbracht hatten, war ihr im Gedächtnis geblieben. Viele Jahre später sollte er der Grund sein, warum sie sich entgegen der Erwartungen ihrer Familie und Freunde entschloss, eine Ausbildung bei der New Yorker Polizei zu beginnen.

Zwei Tage nach der Abreise von Jaya und ihrer Tochter Amaryllis war Reti am frühen Morgen auf dem Weg zu ihrem Geschäft von drei Männern überfallen und vergewaltigt worden. Sie ließen ihr Opfer im Straßenrand liegen. Reit war auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Die indische Polizei hatte einige Tage nach den Tätern gesucht, ihre Ermittlungen aber schnell eingestellt. Vergewaltigungen waren in Indien zu sehr an der Tagesordnung. Die Familie Winter war im Verlaufe der Jahre noch oft nach Indien gefahren, aber nie wieder nach Jodphur, die Heimatstadt ihrer Mutter.

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